Dienstag, 4. Dezember 2018

Filme der Woche #2

VIDEODROME [David Cronenberg | CAN 1983]
© Koch Media
Was mich VIDEODROME noch etwas hinter David Cronenbergs besten Werken einordnen lässt, ist zum einen seine thematische Überdeutlichkeit und zum anderen der Mangel an Empathie für seine(n) Helden. Das hat sicher auch viel mit der sehr kurzen Laufzeit des Films zu tun, die den Charakteren wenig Raum gibt und den Realitätsverlust (oder besser: Realitätenbildung) seines Protagonisten sehr energisch, doch beinahe hektisch abhandelt. Auch wenn das Spiel mit den Wirklichkeiten viel Interpretationsraum lässt und der Film danach schreit, endlos philosophisch seziert zu werden, ist VIDEODROME für mich nicht mehr als ein vergnüglicher Trash-Film mit beeindruckender Handschrift.
HACHIKO - Eine wunderbare Freundschaft [Lasse Hallström | UK, USA 2009]
© Pro Kino


Ein Hund als Hauptfigur, der am Bahnhof wartet – jeden Tag. Er wartet auf sein Herrchen, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Ähnlich lang fühlt sich HACHIKO für den Zuschauer, der wenig mit Hunden anzufangen weiß, an, den mehr der Film an sich interessiert. Denn die Geschichte zwischen Hund und Herrchen ist ein auffallend in die Länge gezogener Film, der sich thematisch im Kreis dreht, der wenig zu erzählen hat und unter ständigem Klaviergeklimper auf die Tränendrüse zu drücken versucht. Das Ende verrät: Nach einer wahren Geschichte. Wow, Hunde sind so treue Tiere. Wusste ich noch nicht.
The Raid [Gareth Evans | IDN, FR, US 2011]
 © Koch Media
Wäre THE RAID nicht so aufwendig produziert, könnte man denken, der Film stamme von einem siebzehnjährigen Gamer, der „endlich mal einen geilen Action-Film“ machen wollte. Zumindest hören sich so die Dialoge an und der pubertäre Score sowie die hässlichen Bilder lassen auch nicht darauf schließen, dass man es hier mit talentierten Filmemachern zu tun hat. Wären nicht die toll choreographierten Nahkämpfe, hätte ich diesen gewaltverherrlichenden Nonsens nach zehn Minuten abgebrochen. Nein, THE RAID scheint wie geschaffen für den genügsamen Zuschauer, dessen Filmkonsum befriedigt wird, wenn er während seiner Whatsapp-Konversation in den richtigen Momenten (wenn eine Schädeldecke durchbohrt wird) kurz aufschaut.

😞

COLD WAR - DER BREITENGRAD DER LIEBE [Pawel Pawlikowski | PL, FR, UK 2018]
 © Neue Visionen
SIE, die Bäuerliche, die Geerdete, die polnische Erde und Heimat. ER, der Künstler, der Kultivierte, der polnische Geist, den es in die Fremde treibt. In erneut bildschönen schwarz-weiß-Bildern im 4:3 Format erzählt Pawel Pawlikowski eine unglückliche Liebesgeschichte, die in der Gegenwart des Kalten Krieges keine Heimat findet, und von einem Polen, das unter einem kommunistischem Regime einerseits keine Freiheit besitzt und in der freien Künstlergesellschaft im Paris der 50er und 60er Jahre keinerlei Autonomie zukommt. Es ist in jedem Fall erleichternd, dass Pawlikowski dem Zuschauer keine solcher oder ähnlicher Allegorien und Metaphern aufdrängt und auch wenn das, was übrig bleibt, nämlich ein Liebesdrama vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, verbraucht und abgenutzt scheint, findet man in COLD WAR genug Raum und Zeit, sich der wunderbaren Poesie fantastischer Bilder hinzugeben.

😊

ROM, OFFENE STADT [Roberto Rossellini | IT 1945]
© Studiocanal
Völlig zurecht einer DER Vertreter des neorealistischen Films und immer wieder Fixpunkt filmgeschichtlicher Aufarbeitungen. Der Film spielt in der Zeit der deutschen Besatzung Roms um 1943, Mussolini ist gestürzt und dennoch sehen sich die italienischen Bürger weiter dem Faschismus unterworfen. Die Dinge werden mit der Zeit schlechter und nicht besser. Wir atmen Zeitkolorit: Die Not, der Hunger und die Hoffnungslosigkeit, die beinahe im Nihilismus mündet. Wenn der Pfarrer beginnt, Menschen zu verdammen, was bleibt dann noch? – Doch da gibt es eine über allem stehende Ethik, die von keiner Ideologie tot zu kriegen ist, ein Gedanke, das Pfeifen der Kinder im Wind. Ein Hauch von Pathos inmitten grausamer Realitäten – genau das, was ein Filmliebhaber braucht. 

😀

PHANTASTISCHE TIERWESEN UND WO SIE ZU FINDEN SIND [David Yates | UK, US 2016]
© Warner Bros.
Ging, wie zu erwarten war, schulterzuckend an mir vorbei: Weitestgehend profillose Charaktere stolpern durch ein graues, hässliches New York von einer blöden Idee in die nächste. Das gerade in Fantasyfilmen immer wieder lieblos hingekotzte Plädoyer für Toleranz und Andersartigkeit, ist diesmal fest im Film verankert, geht aber ebenso wie eigentlich alles andere im Effektgewitter unter. Eddie Redmayne spielt immer noch Stephen Hawking und macht sich sogar mit einer im Grunde schwer sympathischen Filmfigur bei mir noch ein Stück unbeliebter.

😞

71 FRAGMENTE EINER CHRONLOGIE DES ZUFALLS [Michael Haneke | AT, DE 1994]
 © Wega Film
71 Fragmente über die Beteiligten eines Amoklaufs: Michael Haneke zeigt in gut eineinhalb Stunden mehrere sinnlos vor sich hin existierende Menschen, die entweder fehlgeleitet sind oder, was hier wohl eher zutrifft, schon immer fehlgeleitet waren. Lange filmt er beispielsweise, wie das dunkle, schon fast schwarze, Blut sich an einer Leiche über dem Boden ausbreitet, ergötzt sich daran, dass die dickflüssige Masse eher Himbeersirup gleicht als dem Lebenssaft, der uns atmen lässt. Keine Frage: Diese Person war schon vorher tot. Um sie braucht man nicht zu trauern. Der Fernseher vermittelt das Gleiche und schaltet wie jeden Tag im Zwanzig-Sekunden-Takt von einer schlechten Neuigkeit zur nächsten. Ein elitärer Film, ein ekelhafter Film, der keinen Finger in irgendeine Wunde legt, sondern solange stochert, bis er Wunden findet, der keine Liebe für seine Figuren übrig hat, der scheinheilig dokumentiert und meint, nichts Schlechtes zu sagen, nur weil er Schlechtes zeigt.

😠

Freitag, 23. November 2018

Filme der Woche


Filme aus den verangenen 7 Tagen, erzählt in jeweils 100 Wörtern.

LORO [Paolo Sorrentino | IT/FR 2018]
© pathè films AG
Ein einziger überlanger Werbe-Clip mit auffallend hässlichem CGI, ohne roten Faden um ein paar hübsch anzusehende Ideen und ernste Dialoge herum konstruiert. Daneben als Satire nicht witzig und pointiert genug, zu oberflächlich als Porträt. Werden Altherrenfantasien in YOUTH noch eher spärlich gefüttert, dürfen sich geile Opas bei LORO umso mehr freuen: Auch wenn sich Sorrentino in circa eineinhalb Szenen in zweieinhalb Stunden vom sabbernden Mund Berlusconis zu distanzieren versucht, sprechen über ein Dutzend Szenen eine andere Sprache. Voyeurismus und Oberflächlichkeit sind, so erzählt auch LORO, in Italiens Gesellschaft fest verankert, und Sorrentino zeigt sich ironischerweise als ein äußerst italienischer Regisseur.


😞


WINCHESTER '73 [Anthony Mann | US 1950]
 
© Universal Pictures
Das Beste an WINCHESTER '73 ist seine spannende Erzählweise: Die Geschichte um die Rache Lin McAdams, des einen Protagonisten, der seine ihm gestohlene Waffe zurück zu erobern versucht, umrahmt die Erzählung von der Gier – oder dem Weg der Waffe, dem anderen Protagonisten, von einer Hand in die nächste, während man fortwährend auf die erwartbare Kollision beider Erzählstränge drängt. Wenn man WINCHESTER '73 im richtigen filmgeschichtlichen Kontext einordnet, wird man die Waffen-Lobhudeleien und charakterliche Undifferenziertheiten eher als Genre-Marotten einordnen können, denn eigentlich hätte der Held die Waffe am Ende folgerichtig zerstören müssen – aber so funktionieren die Mechanismen des amerikanischen Western nicht.


😐



VILLAGE OF THE DAMNED [John Carpenter | US 1995]
© Universal Pictures
Wie groß muss die Enttäuschung damals in den 90ern gewesen sein, wo der Name John Carpenter noch Qualität versprach. Nach einer viel versprechenden Prämisse und einem Intro, das stark an Kubricks SHINING erinnert, muss sich doch langsam immer stärker ein Gefühl von Verwirrung in die Köpfe der Zuschauer geschlichen haben - Verwirrung aufgrund des ungenutzten Potentials mangels Ideen, mangels Inhalt und mangels Konsequenz. Weder die Motivation der „verdammten“ Kinder noch der Blickwinkel der irdischen Erwachsenen werden über den Tellerrand hinaus weiter gedacht. Passend dazu muss dann auch noch handvoll Dynamit herhalten, um alle Probleme zu lösen. Geht es noch abgedroschener? 

😞


HANNIBAL [RIDLEY SCOTT | US 2001]
© Universal Pictures
Ich habe gar nicht mal so viele Fortsetzungen in meinem Leben gesehen und wahrscheinlich selten eine schlechtere. Hannibal Lecter auf freiem Fuß ist ein kultivierter Langweiler geworden und Clarice Starling ohne Hannibal eine profillose Langweilerin. Eigentlich ist HANNIBAL ein ausgemachter Trash-Film mit karikierten Krüppeln, plumpen Machos und wahnwitzigen Gore-Momenten, nur fühlt er sich eben ernst gemeint an. Daneben fehlt es an beinahe allem: An einer mitreißenden Story, einer echten Heldin und einem markanten Antihelden, denn was ein pervers-wahnsinniger Intellektueller aus der Mitte der Gesellschaft sein sollte, gerät unter der gelangweilten Regie von Ridley Scott zu einem Spießbürger mit gelegentlicher Mordlust.

😞


ANOTHER YEAR [Mike Leigh | GB 2010]
© Prokino
Mit welcher Ruhe und Präzision Mike Leigh seine liebevoll geschriebenen Figuren Stück für Stück entblättert und hier die Schattenseiten des auf den ersten Blick ach so harmonischen Spießbürger-Daseins offen legt, ist schlichtweg bewundernswert. Das alles geschieht aus der Perspektive des aufmerksamen, unparteiischen Beobachters, der dem Zuschauer unauffällige, doch umso vielsagendere Blicke und Gesten offenbart, die dem harmoniesüchtigen Ehepaar Tom und Gerry (die Namen sind Programm) entgehen oder entgehen wollen. Die Probleme ihres Umfelds nämlich, so gut gemeint und wohl erzogen sie sie auch halbherzig zu lösen versuchen, werden mit zunehmender Vehemenz zum Dorn im Auge, das die scheinbare Idylle stört. 

😃

SENNA [Asif Kapadia | UK/FR/US 2010]
© Universal Pictures
Ich habe keine Ahnung von Formel 1 vor den 2000er Jahren, umso lehrreicher, aber auch umso schwieriger einzuordnen, war für mich der Dokumentarfilm um den brasilianischen Rennfahrer.
Denn er steht schon sehr auf der Seite seines porträtierten Rennfahrers, und dementsprechend schlecht kommt Sennas größter Rivale Alain Prost weg. Zum Glück aber verlässt sich der Film nicht nur auf seinen Gut-Böse-Kniff um die Rivalität beider Fahrer, sondern zeichnet (auf der Bildebene ausschließlich) mit Hilfe von einmaligem Archivmaterial ein unglaublich spannendes wie intimes Porträt eines im positiven Sinne wahnsinnigen wie passionierten Menschen, dessen Leidenschaft stets im Vordergrund stand und schließlich zum Verhängnis wurde.

😊

THE BALLAD OF BUSTER SCRUGGS [Joel & Ethan Coen | US 2018]
© Netflix
So deutlich wie nie im Oeuvre der Coen Brüder kommt das Faible fürs Geschichten-Erzählen zur Geltung. Sechs Western-Geschichten werden in THE BALLAD OF BUSTER SCRUGGS in ihrem unverkennbaren Stil zum Besten gegeben, doch nach der ersten absurd-witzigen Episode gerät der Film bereits ins Stottern, das Gezeigte ist weder sonderlich lustig, noch tragisch, noch emotional in seiner Gänze. Dass die Episoden wie eigentlich jeder Hollywood-Western irgendetwas über Amerika erzählen sollen, meinetwegen, doch fehlt es den Geschichten an Zeit und an einer klar erkennbaren Geschlossenheit. Der perfekte Netflix-Film zum Einschlafen: Nein, mit solchen Filmen wird das Kino die Coen Brüder kaum vermissen. 

😞


Dienstag, 29. Januar 2013

Der Pianist [Roman Polanski | DE,FR,GB,PL 2002]


Die Zerstörung eines Radiosenders mitten in einer Piano-Aufnahme - Damit beginnt Roman Polanskis preisgekröntes Holocaust-Drama Der Pianist und symbolisiert sogleich die nahende Destruktion jeglicher Kultur. In Zeiten des Krieges braucht man schließlich keine Musiker wie Władysław Szpilman, der in diesem erschreckenden Moment noch nicht einmal ahnt, was auf ihn und seine Familie zukommt und zu welchen Untaten der Krieg fähig ist. Wie eindringlich Polanski anfänglich den herannahenden Schrecken, die soziale Ausgrenzung der Juden und die fassungslosen Reaktionen aus der Sicht einer gewöhnlichen Familie schildert, ist schlichtweg herausragend. Erst sind es nur erniedrigende Verbote, dann sterben die ersten Menschen auf offener Straße. Der Zuschauer ist, wie soll es auch anders sein, fassungslos - von den Gräueltaten der Nazis, aber auch von der Illoyalität einflussreicherer Juden. Ohne die Verbrechen des Nationalsozialismus in irgendeiner Weise zu verharmlosen, verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Gut und Böse. Klare Feindbilder, und das macht diesen Film so ehrlich, existieren nicht. Verstört von schonungsloser Brutalität und ergriffen vom unausweichlichen Schicksal der Juden gleitet der Zuschauer langsam in die zweite Hälfte des Films in der sich seine zweieinhalbstündige Länge hin und wieder bemerkbar macht, denn sie ist bestimmt vom großen Warten: Warten auf das Ende des Krieges, auf Befreiung, vielleicht aber auch nur das Warten auf den Tod. Die vorangegangene Grausamkeit der Nazis rückt wieder etwas in den Hintergrund, allerdings ohne die ständige Angst und Bedrohung zu verharmlosen. Stattdessen widmet sich Polanski in der unabwendbaren Isolation nun ungehindert der Person Władysław Szpilman und seinem unbändigen Überlebenswillen, bestärkt in der Hoffnung endlich wieder Klavier spielen zu können. Dass es schließlich so weit kam, hat er nichtsdestotrotz ausgerechnet einem Deutschen zu verdanken, dessen Wohltat den letztlichen Sieg durch die Alliierten zur Nebensache degradiert und stattdessen das Wesentliche auf den kleinen Menschen lenkt: Die Güte und Vernunft eines Einzelnen kann durch keine noch so starke Ideologie gebrochen werden. Die Geburt eines Helden in einer Zeit, die keine Helden braucht.

8/10

Sonntag, 16. Dezember 2012

Anna Karenina [Joe Wright | FR,GB 2012]


Bühne frei für die feinen Damen und Herren Russlands, für prunkvolle Gewänder und Paläste, für prächtige Festmäler auf reich gedeckten Tischen und für berauschende Tanzbälle unter den Sternen bei Nacht: Der Schein überragt das Sein in völliger Gänze und unter jenem Deckmantel verbirgt sich ein schwaches und unterentwickeltes Russland von rabenschwarz-verkohlten Arbeitern, armen Bauern und gestrigen Moralvorstellungen, während sich zwei Liebende im tragischen Kampf gegen die feudale Gesellschaft befinden. Genügend Gründe Rotz und Wasser zu heulen gibt Tolstois Romanvorlange zweifelsohne her, doch konzentriert sich Joe Wright weniger auf große Melodramatik (die Taschentücher können zu Hause bleiben), als vielmehr auf inszenatorische Eleganz und Präzision, mit der er auch das gesellschaftskritische Potential der Geschichte vollkommen ausschöpft. Das gelingt nicht zuletzt auch Dank des genialen Einfalls, den Großteil der Story ins Theater zu versetzen, das durch seine opernhafte, unwirkliche Ausstrahlung die herrliche, unbeschwerte Welt des russischen Hochadels als lächerliche Maskerade entlarvt. Im Mittelpunkt aber steht lediglich eine Frau, die sich, auch der Suche nach wahrer Liebe, von den Fesseln der Ehe zu befreien versucht, gefangen in einer festgefahrenen Ordnung, die alle ihre Bürger gleichsam mit sich zieht. So löst Anna Karenina (keine Frau passt so gut in diese Zeit wie Keira Knightley) eine Kettenreaktion aus, als sie sich trotz Ehegelübde dem jungen Graf Wronskij hingibt und somit gleich mehrere Personen, allen voran Jude Law als ihren leidvoll disziplinierten Ehemann, mit in den Schmutz zieht (Lieblingsszene: Eklat beim Pferderennen). Die adelige Familie rast dem Niedergang entgegen, eine bittere Tragödie scheint vorprogrammiert. Man könnte Joe Wright vorwerfen, dass er mit großen Gefühlsausbrüchen und spürbaren Mitleid mit seinen tragischen Figuren sehr sparsam umgeht, dass er Ästhetisierung wahren Gefühlen vorzieht und dass der Zuschauer, abgesehen von der romantischen Beziehung zwischen Landarbeiter und Adliger, die offenbart, das wahre Liebe funktionieren kann, keinen echten Bezug zu ihnen herstellen kann, doch zielt Wright, so konsequent und stilsicher wie nie, genau darauf ab, die leere Hülle einer Gesellschaftsschicht sowie ihre Unfähigkeit der Realität ins Auge zu blicken, ohne ein Urteil nüchtern zu präsentieren, bis es schließlich zur Katastrophe kommt und eine herrliche Schlusseinstellung suggeriert, dass das Leben eben doch keine Bühne ist. Erst mit dem Abspann kommen die Emotionen.

8/10

Sonntag, 9. Dezember 2012

Wolfsburg [Christian Petzold | DE 2003]


Guten Tag, mein Name ist Philipp Gerber. Ich habe gestern Nachmittag auf der L322 zwischen Wolfsburg und Nordsteimke ein Kind überfahren. Ich habe Fahrerflucht begangen. Ich hätte anhalten müssen, nach dem Jungen sehen, einen Krankenwagen rufen oder ihn vielleicht sogar direkt ins Krankenhaus fahren müssen. Das hab ich aber nicht getan. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht warum ... vielleicht habe ich gerade in dem Moment an meine Freundin gedacht, die gerade in dem Moment zu Hause ihre Sachen packt, um mich zu verlassen ... ich weiß es so richtig gar nicht. Ich hoffe, dass es dem Jungen okay geht. Ich hoffe, dass es dem Jungen gut geht. Ich hoffe, dass der Junge wieder gesund wird. Guten Tag mein Name ist Philipp Gerber...“
Täglich begegnen sie einem, täglich stimmen sie einen für wenige Sekunden traurig - Ein Symbol der Trauer und auch ein Appell an die Verkehrssünder, an die Vernunft: Mit Blumenkränzen liebevoll eingedeckte Kreuze am Straßenrand. Christian Petzold erzählt in seinem höchst eindringlichen Film Wolfsburg die Geschichte dahinter und fixiert sich ausschließlich auf die zwei tragischsten, beide von Trauer und Schuld zerfressenen Überlebenden. Während Nina Hoss als trauernde Mutter, trotz dass sie anscheinend auch keine Bilderbuchmutti war, die bemitleidenswerte Opferrolle zukommt, interessiert hier vielmehr die anregende Darstellung des von Benno Fürmann verkörperten Täters. Auch wenn Philipp ein Kind überführ und es dann auch noch liegen ließ, ist er ein Mensch und jeder Mensch macht Fehler. Sein von allerlei Gefühlen beeinflusstes Verhalten ist nicht immer rational erklärbar und die Person als Gut oder Böse abzustempeln, wäre beileibe zu einfach. Anfangs völlig verwirrt und später geplagt von Schuld sucht er die Nähe zur leidtragenden Mutter, versucht, so viel er nur kann, wiedergutzumachen, doch nichts, nicht einmal Liebe, kann ihn von dieser Last befreien. Indem Petzold den derzeitigen Lebenszustand beider Menschen tiefgehend beobachtet und besonders mithilfe seiner detaillierten Ausleuchtung ihrer Innenleben durch feine Gesten und Blicke letztlich auch den Täter Philipp überzeugend zu einer tragischen Figur formt, ihn zu einem ebenso großen Opfer des Schicksals bzw. des unglücklichen Zufalls macht, gelingt ihm ein humanes Meisterstück, das die Ausweglosigkeit eines unerklärlichen Vorfalls sowie das Fressen-und-gefressen-werden in einer seltsam harten Welt anregend schildert - unbedingt sehenswert.

7/10
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